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  Hrsg. Lucas Edel: Uhrwerk Venedig
 
Wo ist die Spannfeder versteckt?

Alles hat seinen Anfang. Die erste deutschsprachige Clockpunk-Anthologie heißt Uhrwerk Venedig. Das Buch ist thematisch ganz neu, zum Teil sogar irreführend. Alle, mit denen ich übers Phänomen Clockpunk sprach, erinnerten sich an Steampunk, obwohl das was anderes ist. Selbst der Herausgeber von Uhrwerk Venedig, Lucas Edel, erwähnt in seinem lapidaren Vorwort den Begriff Steampunk und präzisiert, dass das Suffix -punk im Zuge der „Steampunk“-Welle angefügt wurde. Man kann betonen: Im Zuge, aber nicht wegen der Gleichheit dieser zwei Begriffe. Andererseits gibt es Quellen, die beide Genres gleichsetzen, z.B.: „Der sogenannte Clockpunk (eine Wortschöpfung des Rollenspiels GURPS: Steampunk) ist eigentlich nur eine Konzentration des Steampunk-Themas, weg von der Dampfkraft, mehr hin zu Aufzieh- und Uhrwerkmechanismen“ (Wikipedia).
Also, kein Spaß, sich in die Diskussionen einzumischen. Hauptsächlich ist der Clockpunk die modernste Herausforderung des Retro-Futurismus, zu dem der früher geborene Steampunk auch gehört.
Steampunk ist ein Genre des Science-Fiction, das die Zukunft der Welt aus den Sichten des viktorianischen Zeitalters darstellt. Also Dampfmaschinen, Kohlenverbrennung und erste Versuche mit der Elektrizität als technischer Kern der grenzenlosen Eroberung des Alls und der Zeit.
Clockpunk hingegen ist ein Genre der Science-Fiction, das die Zukunft aus den Sichten der Renaissance darstellt. Und nicht umsonst, da praktisch alle revolutionären Erfindungen der Gegenwart, von Flugzeugen bis zu künstlichen Menschenorganen, schon in der Zeit von Leonardo da Vinci „geplant“ wurden. Und wie die Welt aussehen könnte, wenn alle diese Wundersachen schon damals geschöpft wären? Wenn sie genau als Tatsachen des historischen Abschnitts 1499-1599 funktioniert hätten?
Die Funktionsbasis der damaligen Mechanik waren energisch effiziente Spannfedern und schlaue Zahnräder. Also feinste Uhrwerke, die selbst in die Uhren, wie auch in allen möglichen Mechanismen bis Automaten hereingesteckt wurden. Darum scheinen sie anspruchsvoller, bunter und feiner, diese heutigen Versuche von Clockpunk-Autoren, die sämtliche Vielfältigkeiten des Lebens der Uhrmechanik unterzuordnen. Diese „Ur-Uhrmechanik“ der Renaissance ist mit Kunst und mit menschlicher Neugierde, menschlichen Ambitionen eng verbunden. Aus diesem Bund entsteht ein phantasie- und prachtvolles Bild der Welt, das auf den Seiten der ersten Clockpunk-Anthologie zu sehen ist. Die Zukunft in der Vergangenheit!
Was finden wir im Buch? Motorisierte Schiffe und U-Bote, atemberaubende Kampfmaschinen, angriffslustige Cyborgs, die ganz ohne Cybernetic entwickelt worden sind, chirurgische Roboter, die dem heutigen Roboter Da Vinci nur im kleinsten Sinne ähneln, nanomäßige Kunstwesen, die keine Ahnung von der Nanotechnologie haben, und so weiter und so fort. Und alles mit Spannfederantrieb. Kein Brennstoff drinnen. Mineralöl nur in den Öllampen, durch die die Wunderwelt beleuchtet wird.
Ja, Spannfederantrieb herrscht überall. „In dieser Stadt scheint nichts unmöglich, sobald Zahnräder und Federn im Spiel sind…“ In was für einer Stadt? In Venedig, selbstverständlich. In der Stadt, die in der beschriebenen Epoche ein Epizentrum der wissenschaftlichen und technischen Erfindungen war. Die Stadt wird zum spektakulären Spielplatz aller in die Anthologie eingeschlossenen Erzählungen verwendet.
Sechs Schriftstücke von sechs deutschsprachigen Autoren machen den Inhalt der Anthologie aus. Worum geht’s dort? Um den Bau eines mechanischen Flugzeuges (Flieg, Goliath von Emilia Dux). Um unerwartete Folgen der Benutzung einer Zeitmaschine (Das Tor von Dirk Ganser). Um den Krieg der bizarrer Kampfkünste, deren Grundlage „selbsttötende“ Bolzen sind (Narrheiten von T.S. Orgel). Um die Entwicklung einer automatischen (jeedoch feuerlosen) Waffe und nichtkybernetischer Cyborgs (Tränensplitter von Tom Wilhelm). Um mechanische „Nanochirurgen“, die den Menschen von innen heilen (Die zwei Seiten der Medaille von Susanne Wilhelm). Und um die Implantation eines künstlichen Herzens (Der Schlüssel von Lucas Edel). Nicht mehr und nicht weniger.
Übrigens sind die Charaktere dieser Geschichten nicht nur mit den Aufziehmechanismen beschäftigt. Sie „drängen sich in Gruppen zusammen, sprechen, husten, flüstern und intrigieren“. Die größten Intrigen sind zur Hauptsache beliebiger Geschichte der Anthologie. Erschütternde Spionagefälle, heimtückische Verschwörungen, berührende Lovestories, alles Mögliche. Und natürlich Leonardo da Vinci – nicht nur „Illustrator“ der Anthologie, sondern auch die Hauptfigur meister Erzählungen. Manchmal ist er traditionell als Genie aller Zeiten gebildet, manchmal als größter Betrüger, der sich die Ideen seiner talentierten Lehrlinge aneignete.
Im Kurzen: Diese relativ kleine Anthologie bereitet den Lesern großes Vergnügen. Letztendlich ist die Science-Fiction eine Literatur der Experimente und des Paradoxen. Daran erinnert man sich hier. Das Experiment mit dem „venezianischen Uhrwerk“ scheint gelungen.



Eckdaten:
  • Taschenbuch: 220 Seiten
  • Verlag: Burger, Ulrich (7. Oktober 2011)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3943378012
  • ISBN-13: 978-3943378016
Meine Bewertung: *****
 
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