Türkisches Kismet heißt Schicksal
Das Buch liest sich einfach und schnell, obwohl es ziemlich geschichtslastig ist. Andererseits sind alleine diese vielen historischen Details interessant. Das Ende des Osmanischen Reichs und die Schicksale einzelner Menschen, die letzten Tage des Sultans Abdülhamid des II. und seines Harmes, neue Zeiten und neue Helden, die Nationaltragödie der Armenier – all das ist vom Autor detailliert beschrieben. Die Erwähnung der wahren historischen Begebenheiten macht den Roman keinesfalls trocken oder weniger attraktiv zum Lesen. Am Schluss des Romans führt der Autor außerdem eine Liste der realen Geschehnisse auf, damit sich der Leser selber ein Bild über den Wahrheitsgehalt des Romans machen kann, über den Anteil an schriftstellerischer Phantasie und über die Existenz der beschriebenen Protagonisten.
Die Geschichte der Hauptcharaktere ist sehr spannend wiedergegeben, an manchen Stellen fast ins Unglaubwürdige. Ab und zu lassen die unglaublichen Zufälle und Kreuzungen der Handlungsstränge einen reinen „Frauenroman“ vermuten. Trotzdem scheint mir die Entwicklung des Plots im Großen und Ganzen gut durchdacht zu sein, die historischen Hintergründe gut recherchiert und zutreffend.
Die größte Aufmerksamkeit hat der Autor der Ausarbeitung des Charakters Elisa gewidmet. Im ersten teil des Buches beschreibt er sehr detailliert ihre Gedanken, Träume und Sorgen, ihr Verhalten ist dem Leser verständlich und fast voraussehbar. Zum Schluss aber scheint mir die Figur Elisas weniger durchdacht, manche ihrer Handlungen unverständlich, vor allem wenn man bedenkt dass das Buch vom – nicht gerade einfachen – Prozess der Selbstbehauptung der Frauen in der Türkei der damaligen Zeit handelt. Die Treffen mit Felix beschreibt der Autor detailliert und wortreich, dagegen das Kennenlernen und Zusammenleben mit Aram (oder war es gar eine Ehe?) finden fast keinen Platz in der Handlung.
Nicht ganz so gut ausgearbeitet finde ich die Figuren von Taifun und Fatima. Mal ist Taifun ein Bösewicht, gemein und brutal, er will Fatima nur besitzen, weil es die schönste Frau aus dem Harem ist. Dann verwandelt er sich auf einmal in einen leidenschaftlichen und zärtlichen Lebensgefährten und später Ehemann von Fatima.
Fatima selber ist meiner Ansicht nach ein streitsüchtiges und gar zorniges Weib, beschuldigt Elisa ständig irgendwelcher erfundenen Fehler von ihr. Man erkennt keine „Schwesternliebe“ in ihren Handlungen.
Noch eine Frauenfigur, die zwar nicht zu den Hauptpersonen zählt, dennoch eine große Rolle im Roman spielt: Saliha, eine der Ehefrauen Sultans, mit der viele Intrigen und dramatische Geschehnisse im noch bestehenden Harem zusammenhängen. Sie schreckt vor nichts zurück im Kampf um den Sultan. Was hat sie dann dazu bewegt, später zur Erzfeindin Fatima nett zu sein und sich um sie und ihr Kind zu kümmern? Aus dem Roman ist das leider unklar. Versucht sie doch zuerst, die Favoritin des Sultans zu vergiften und so ihr Ungeborenes zu töten. Diese Figur im Roman hat meiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit in der Ausarbeitung der Details bekommen.
Ab und zu wird die Handlung unterbrochen, es entstehen Lücken, manche Szenen, die spannend anfangen, finden kein passendes Ende, wie beispielsweise das Erscheinen Fatimas in der hitzigen „revolutionären“ Menschenmenge im bunten Kleid, das sie als Haremsbewohnerin enttarnt (normale Frauen trugen schwarz). Hier kann man nur vermuten, welch trauriges Ende eine solche Szene in der damaligen Zeit finden würde – im nächsten Abschnitt aber, auf der gleichen Seite, ist die Heldin wohlauf, befindet sich schon ganz woanders und es gibt nicht mal einen Hinweis auf den Ausgang des potentiell tödlichen Treffens.
Ich finde außerdem, dass es in der zweiten Hälfte des Romans zu viele brutale Szenen gibt, wenn es um die Massenvernichtung Armeniern geht. Diese detaillierten Gewaltsbeschreibungen hätte man ruhig knappen halten können. Das Gleiche gilt auch für die erotischen Szenen, die aber – als Gegensatz zu den Brutalitäten – viel zu süß und detailreich ausfallen, mit allen physiologischen Einzelheiten. Klar, der Autor ist ein staatlich geprüfter Erotologe (klingt interessant!) und hat bestimmt Spaß daran, solche Szenen aus der Profi-Sichtweise zu beleuchten, ich finde es aber überflüssig.
Ab und zu ist der Autor wohl selber zu gespannt vom Plot, sodass er die Zeit und Ort der beschriebenen Ereignisse vergisst. Manche Details erinnern eher an das heutige Europa als an die Türkei ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Cover beispielsweise entspricht nicht dem „allgemeinen“ Bild einer orientalischen Frau oder des Harems; andererseits erweckt es bestimmt größeres Interesse zum Inhalt des Buchs als eine verschleierte Frau. Oder ein anderes Beispiel: der Autor erfindet eine solche Lösung für das Wiedertreffen seiner Helden, die sich anscheinend für immer aus den Augen verloren haben: auf dem Titelbild eines Illustrierten ist ein Foto von Taifun im Gerichtssaal veröffentlicht, im Hintergrund ist Elisa erkennbar und die Zeitschrift gelangt natürlich in die richtigen Hände :-( Saliha wollte die Modeseiten durchblättern. Klingt ja unglaublich für die damalige Türkei! Frauenzeitschriften, Mode und vielleicht sogar Modeschau *kopfschüttel* Die modernen Illustrierten (und nicht die Zeitungen!) mit Titelbild sind sogar in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Geschweige denn in der Türkei der Zeiten des Ersten Weltkriegs!
Die Geschichte mit den diversen Versicherungen der damaligen türkischen Armeniern bei den amerikanischen Versicherungsgesellschaften, von den die neue türkische Regierung profitiert hat, erscheint mir ebenfalls unglaubwürdig.
Am meisten hat mich aber die Aussage überrascht, die die außergewöhnliche Schönheit Fatimas – damals noch Fatmas – unterstreichen soll: „Ihre Mutter hatte sie sogar von einem russischen Arzt gegen Windpocken impfen lassen, damit keine Pusteln Fatmas Schönheit zerstören konnten.“ Klingt zunächst überzeugend, nur hat Herr Prange wahrscheinlich Windpocken mit Pocken verwechselt, denn jede Mutter heutzutage weiß, dass es keine wirksame Impfung gegen Windpocken gibt, und bis vor kurzem gab es gar keine Windpockenimpfung. Im heutigen Deutschland werden die Kinder seit 2004 dagegen geimpft, aber wir befinden uns in der Türkei am Ende des 19. Jahrhunderts! Damals konnte man sich einen Impfstoff gegen Pocken noch nicht mal vorstellen.
Die Redaktionsarbeit des Romans erstaunt sowieso an manchen Stellen. So wird Elisa im Roman mit „s“ geschrieben, im Klappentext aber „Eliza“. Das ist aber bekanntlich bei allen Verlagen so: was Tausend Augen sehen, sieht keiner. Das ist eben Kismet, das Redaktionskismet
Bei der Aufzählung diverser Nationalitäten, die in der damaligen Türkei leben, nennt der Autor in einer Reihe mit den Türken, Kurden, Armeniern, Griechen usw. auch Wahabiten Dabei ist Wahabit keine Nationalität, sondern eine Religionszugehörigkeit. Solche Kleinigkeiten verzerren den Gesamteindruck des Romans, als hätte der Autor ihn in Eile fertig geschrieben, ohne sich auf die Überprüfung der Fakten zu konzentrieren.
Das Ende des Romans enttäuscht. Ein seltsamer Zeitsprung, die Veränderungen in den Schicksalen der Hauptfiguren in den letzten fünf Jahren werden vom Autor nicht erläutert. Kein Happy-End. Und keine Fortsetzung geplant, wie Herr Prange selber im Forum auf trnd.com mitteilt. Ob die Liebe von Elisa und Felix eine Zukunft hat, muss der Leser so selber fertig denken.
Auf jeden Fall eine spannende Geschichte, die Lektüre ist eine leichte und schnelle „Kost“, den Roman kann man jedem empfehlen, der sich für die Geschichte, insbesondere die historischen Ereignisse im Orient, interessiert. Aber so manche Lücken in der Ausarbeitung der Charaktere, ein „rohes“ Ende, einige Fehler in der Darstellung der Fakten wirken sich in meinen Augen negativ auf das Gesamtbild aus.
Eckdaten:
Taschenbuch: 576 Seiten
Verlag: Knaur TB (1. November 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 342663855X
ISBN-13: 978-3426638552